Bundestrainer Helmut Schön: Meine Elf und ich -- 4. Teil --
"Hörzu" Nr. 22 / 1974, S. 44-51: --erfasst von TJ--
Aufgezeichnet von Roman Köster ("Hörzu")
Mir zitterten die Hände, und ich schimpfte lauthals. Diese verdammten, breiten Schnürsenkel
wollten sich nicht durch die Ösen meiner Fußballstiefel ziehen lassen. Plötzlich hörte ich
eine Stimme aus dem Hintergrund. Sie klang nett und freundlich:
"Nun mal ganz ruhig und langsam, Helmut. Du brauchst nicht so
nervös zu sein. Hier in der Nationalmannschaft ist es genauso wie bei euch in der
Vereinsmannschaft beim Dresdner SC."
Die Stimme im Hintergrund - das war Hans Jakob. Der Torhüter von Jahn Regensburg hatte
damals schon 31 mal für Deutschland das Tor gehütet, während ich meiner Premiere
entgegenfieberte. Es war der 21. November 1937. Und ich hatte mir für dies denkwürdige
Stunde extra neue Schnürsenkel besorgt.
Die beruhigenden Worte von Hans Jakob halfen. Der Einstand war erfolgreich; denn beim 5:0-Sieg
gegen Schweden in Hamburg schoß ich 2 Tore. Mein erster Schuß aufs Tor traf den Pfosten,
und ich dachte: "Hallo, hier ist es ja wirklich genauso wie daheim".
Mittlerweile habe ich selbst sehr oft die Rolle des "Seelenarztes" spielen müssen. Ich kenne
alle Symptome bei den Spielern, wenn sie zum erstenmal für Deutschland
spielen sollen und Premiere feiern.
Die einen versuchen ihre Nervosität mit Ausgelassenheit zu überspielen.
Andere dagegen geben sich besonders burschikos oder sind ganz ruhig.
Und wieder anderen - wie zum Beispiel Gerd Müller - macht es überhaupt nichts aus.
Sie können sogar aufgrund ihres Naturells einen gehörigen psychologischen
Schubs vertragen. Mit deftigen Worten.
Apropos Psychologie. Ich halte sehr viel davon, obwohl ich sie nicht studiert habe.
Der Grund liegt in meiner Arbeit: Oft kommen die Spieler mit aufgestauten Aggressionen
aus den Bundesligaspielen in den Kreis der Nationalmannschaft. Sie sind gereizt
und empfindsam. Klar, wenn man um Bundesligapunkte gekämpft hat.
Diese Aggressionen müssen langsam abgebaut werden.
Ich erinnere mich noch an die Lage vor dem letzten Länderspiel gegen Ungarn in
Dortmund, das wir mit 5:0 gewannen. Wir trafen uns am Sonntag. 24 Stunden vorher
hatte es das hektische Spiel im DFB-Vereinspokal zwischen Eintracht Frankfurt und
Bayern München gegeben. Ein Elfmeter in der 89. Minute, ein schimpfender
Sepp Maier und ein mürrischer Franz Beckenbauer. Verständlich, wenn man kurz vor
Schluß verliert. Doch Verlieren gehört nun mal zum Fußball.
So führe ich meine Spieler
Niemand wird nun erwarten, daß sich die Nationalspieler beider Vereine bei der Ankunft
in Dortmund um den Hals fielen. Dem war auch nicht so. Es dauerte einige Zeit,
bis das Ereignis vergessen war.
Sie wollen wissen, wie sich ein Trainer in solch einer Situation verhält? Vielleicht
gibt Ihnen mein genereller Führungsstil darüber am besten Auskunft.
Die Basis der Zusammenarbeit zwischen den Spielern und mir heißt: Anstand gegen
Anstand, Verständnis gegen Verständnis.
Ein Beispiel. Ich habe Verständnis für des Fußballspielers liebste
Freizeitbeschäftigung - das Kartenspielen. "Wir wollen noch einen kloppen", sagen
dann die Spieler. Und ich erwidere: "Bis 22 Uhr, meine Herren, dann ist Bettruhe." Sie
können nun mit dem Kopf schütteln und ungläubig schmunzeln: Um 22 Uhr ist dann wirklich Bettruhe.
Ich gehöre auch nicht zu den Trainern, die von Zimmer zu Zimmer marschieren und die
Betten kontrollieren. Wenn ich auf dem Zimmer erscheine, dann findet ein Gespräch
unter vier Augen statt, oder es müssen Verletzungen vom Arzt behandelt werden.
Halten wir doch klar fest: Die Verantwortung für die Nationalmannschaft trage ich.
Doch es ist gut, wenn die Spieler das Gefühl haben, daß sie mitverantwortlich sind.
Und dieses Gefühl ist da.
Es gibt keine "Erzfeinde"
Sie können zum Beispiel auf dem Platz frei entscheiden. Dabei kommt es dann auf Bruchteile
von Sekunden an. Und wer einmal ganz genau hinschaut, wird dann erleben, daß es innerhalb der
Mannschaft keine "Erzfeinde" gibt. Ich meine das, was uns angedichtet wird:
Block Bayern kontra Block 1. FC Köln.
Oder könnten Sie sich folgende Situation vorstellen:
Der Kölner Bernd Cullmann läuft mit dem Ball auf das gegnerische Tor zu.
Da sieht er Gerd Müller in freier Schußposition stehen. Nun gibt Cullmann den
Ball nicht ab, weil ihm plötzlich der Gedanke kommt: "Halt, der Müller ist ja ein
Spieler von Bayern München. Dem darfst Du den Ball nicht geben."
Für jeden, der etwas vom Mannschaftssport versteht, ist eine solche Situation grotesk, nicht wahr?
Doch es gibt in der Tat Leute, die von solchen Momenten überzeugt sind.
Die einen "Krieg" zwischen Bayern München und 1. FC Köln
sehen und auch darüber schreiben. Sie versuchen Unruhe zu stiften.
Ich glaube, daß die Nationalspieler reif genug sind, Kritik einzustecken.
Nur - sie muß sachlich sein.
Mir persönlich wird ja besondere Empfindsamkeit vorgeworfen. Das stimmt.
Wenn polemisiert wird, reagiere ich ausgesprochen sauer. Dadurch wird das Betriebsklima
verdorben. Ich habe nichts gegen einen gesunden Widerspruch und gestehe auch Fehler ein.
Der gute Schlaf vorm Länderspiel
Außerdem sagt man von mir, ich sei ein Zauderer und Zögerer. Hier wird Gewissenhaftigkeit
mit Zaudern und Zögern verwechselt. Ich bin kein Pedant, aber ich gehe an jede Sache
gewissenhaft heran. Deshalb schlafe ich in der letzten Nacht vor einem Länderspiel besonders gut.
Ich weiß: Wir haben uns gut vorbereitet, haben hart trainiert und die Mannschaft steht.
Nichts wäre mir lieber, als eine Mannschaftsausstellung drei Tage vor einem Spiel bekannt
geben zu können. Die Journalisten brauchten nicht zu drängeln, die Fotografen wären
beruhigt - und die Spieler selbst auch. Ich hätte noch nicht einmal Angst davor, daß sich
nun der Gegner mit einer besonderen Taktik auf uns einstellen könnte. Im heutigen Fußball
weiß der Kontrahent sowieso fast alles.
Die Praxis sieht jedoch anders aus. Drei Tage vor einem Spiel kann noch reichlich viel
passieren. Es gehört doch kein besonderer Mut dazu, wenn ein Trainer sein Aufstellung
frühzeitig hinausposaunt. Passiert dann ein Mißgeschick, ist die Enttäuschung doppelt
so groß. Bei allen Beteiligten.
Unsere Spieler kennen meine These: Sie heißt: Es geht nicht um den einzelnen, es geht
ums Ganze. Und das Ganze heißt hier - die Mannschaft.
Zur Mannschaft gehören auch die Reservespieler. Ich weiß, wie hart es ist, auf der Bank
sitzen zu müssen und trotzdem immer guter Laune zu sein.
Manchmal hatten Spieler schon fest damit gerechnet, daß sie in der Elf stehen würden.
Im Interesse der Mannschaftsformation mußten sie plötzlich einem anderen weichen.
Zum Beispiel Helmut Haller bei der WM 1966 in England vor dem Spiel gegen Spanien.
Es bereitete mir viel Kopfzerbrechen, ihm zu sagen: "Helmut, heute spielt der Lothar
Emmerich." Haller trug´s mit Fassung. Sein Ehrgeiz und seine Bereitschaft litten nicht
unter der Enttäuschung. Im Gegenteil. Drei Tage später war er gegen Uruguay in besserer Form.
Vielleicht liegt der Erfolg der Nationalelf bei den Weltmeisterschaften 1966 in
England und vier Jahre später in Mexiko u.a. in dem guten Verhalten der Reservespieler.
Alle 22 Spieler bildeten eine Einheit, so wurde der zweite bzw. dritte Rang im WM-Turnier errungen.
Als wir am 22.Oktober 1969 gegen Schottland in Hamburg mit 3:2 gewonnen hatten
und die Fahrkarte nach Mexiko gesichert war, da habe ich allen einen Brief geschrieben.
Ein Absatz darin lautete: "Ich möchte aber nicht versäumen, in diesen Dank auch diejenigen
von Ihnen einzubeziehen, die auf der Reservebank gesessen haben. Es ist lange her, daß
mir eine Mannschaftsaufstellung so schwergefallen ist wie an jenem Tag.
Sie können versichert sein, daß ich auch für manche Enttäuschung Verständnis habe,
die der eine oder andere Spieler empfand, als er nicht aufgestellt wurde.
In sportlicher Haltung haben Sie mir die letzte Entscheidung aber leichtgemacht."
Es wird sicherlich nicht leicht sein, bei der Gleichwertigkeit unseres WM-Kaders 1974
jedem gerecht zu werden. Hier wird Malente sein Wirkung nicht verfehlen. Die Sportschule
in dem idyllischen Ort in Schleswig-Holstein wird uns dabei enorm helfen.
Hier wird sich der Kader zu einer Einheit finden.
Der Kampf um die Fahrkarten zur WM ist beendet, die Belastung der Spieler durch Bundesliga
und Europacup vorbei. Der Zwang der Terminnot sitzt niemanden mehr im Nacken.
Hier werden die Spieler auch wieder zu sich selbst finden. Es bedarf speziell in
diesem Punkt einiger psychologischer Arbeit.
Glauben Sie doch bitte nicht, daß ein Gerd Müller aus so hartem Holz geschnitzt ist,
daß ihm die Pfiffe vom Länderspiel in Hamburg gegen Schweden nicht unter die Haut gehen.
Oder Franz Beckenbauer. Der Mann, der ein geniales Talent hat, bei dem alles so lässig
und leicht aussieht - er spielt keinen arroganten Fußball.
Vielleicht hilf eine kleine Episode, die sich vor Jahren ereignete, den wahren
Franz Beckenbauer zu charakterisieren. Franz zählte gerade 18 Lenze und trat in einem
Probespiel der Nationalelf in Duisburg auf. Die Kritik hinterher hieß: "Helmut Schön
stellt einen talentierten, jungen Mann namens Beckenbauer. Er spielte nicht schlecht,
aber sehr arrogant." Schon damals ist ihm alles spielerisch leicht von der Hand gegangen.
Es besteht auch ein großer Unterschied in der Rolle des Kapitäns.
Uwe Seeler war ein anderer Typ als Franz Beckenbauer. Uwe, der Kämpfer, der hemdsärmelige.
Franz, der elegante, der Spieler. Beide jedoch sind großartige Spielerpersönlichkeiten,
mit denen ich als Trainer gern zusammengearbeitet habe bzw. zusammen arbeite.
Wehe, wenn der Franz Schluß macht
Und diejenigen, die manches an ihm zu kritisieren haben, werden sich in einigen Jahren
die Finger nach Franz Beckenbauer lecken. Nämlich dann, wenn er nicht mehr spielt.
Damit wären wir bei der Zukunft unserer Nationalmannschaft. Das Durchschnittsalter
liegt um 26 Jahre. Einige der Spieler, die jetzt dabei sind, werden in vier Jahren
in Argentinien nicht mehr mit von der Partie sein. Es klopft eine ganze Reihe von jungen
Fußballern an die Tür, die hereinwollen. Und sie werden auch ihre Chance erhalten.
Nicht Hals über Kopf, weil die nächste Aufgabe Verteidigung des Europameister-Titels heißt.
Unsere ersten Gegner: Malta, Bulgarien, Griechenland.
Man braucht wohl kein Prophet zu sein, daß sich alle drei Länder gegen den Titelverteidiger
besonders mächtig ins Zeug legen werden.
Diese Europameisterschaft ist dann der Grundstein für die Fußball-Weltmeisterschaft 1978,
die in Argentinien gespielt wird.
Mir ist vor der Zukunft nicht bange. Der Grund: In den Vereinen wird sehr gute
Jugendarbeit geleistet. Unsere Trainer zählen zu den besten der Welt.
Demnächst wird der Leistungsfußball noch mehr konzentriert, wenn die 2. Bundesliga
Premiere feiert. Ich bin ein Befürworter dieser Entwicklung, doch es wäre mir
lieber gewesen, wenn diese zweite Liga nicht zweigeteilt wäre.
Man hätte einen besseren Überblick.
Vielleicht sollte ich zum Schluß dieser Serie etwas für die Freunde von Zahlen erklären.
• Am 28. Januar 1900 wurde der Deutsche Fußball-Bund (DFB) in Leipzig gegründet.
Damals gehörten ihm 86 Vereine mit 3000 Mitgliedern an.
Die letzte Zählung lautete wie folgt: 16 890 Vereine mit 3 197 579 Mitgliedern.
1950 wurde der DFB wiedergegründet. Diesmal in Hannover.
Warum diese Zahlen? Nun, sie beweisen die Entwicklung dieses Spiels mit einem Lederball.
Und die Kunde weiß zu berichten, daß sich Spieler in China ebenso bezahlen ließen wie
Indianer in Südamerika. Dies sei nur erwähnt, weil heute sehr viel über die Bezahlung
unserer Spieler kritisiert wird.
Mein Blick nach vorn ist also optimistisch. Auch dann noch, wenn mein Traum, den
sicherlich jeder Fußballfreund hat, von den Alpen bis zur Nordsee, nicht in Erfüllung
gehen sollte: daß die deutsche Fußball-Nationalmannschaft
am 7. Juli den Coup Jules Rimet gewinnt.
ENDE
|