1974: 16-20; Helmut Schön: Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, WM 74     
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Bundestrainer Helmut Schön: Meine Elf und ich -- 2. Teil -- "Hörzu" Nr. 20 / 1974, S. 44 - 49:

Aufgezeichnet von Roman Köster ("Hörzu")


Wäre die Lage nicht so weltmeisterschaftlich ernst, man könnte darüber seine Witzchen machen, vielleicht frei nach Wilhelm Busch: "Max und Moritz diese beiden..." Und die Zielscheibe wäre unsere Fußball-Nationalmannschaft.

Bei genauerer Betrachtung mutet es schon reichlich seltsam an. Wieder steht eine WM ins Haus, und wieder hat Deutschland sein Max-und-Moritz-Paar.

Erhitzten sich die Gemüter vor der WM in Mexiko am Gespann Uwe Seeler / Gerd Müller, so dreht sich nun alles um das Thema Wolfgang Overath und Günter Netzer. Die Frage ist dieselbe wie vor vier Jahren: Können beide zusammen in einer Mannschaft spielen oder nicht?

Nun werden Sie als sachverständiger Fußballfreund erwidern: Warum überhaupt diese Frage? Der Bundestrainer sollte froh sein, zwei so exzellente Spieler zu besitzen. Andere Trainer beneiden ihn. Sie würden sich glücklich schätzen.

Ich bin auch froh. Ich weiß es zu schätzen. Und ich sage es auch gleich vorweg: Wären beide Spieler in Bestform, dann wäre die Frage längst beantwortet. Ich würde - erneut allen Unkenrufen zum Trotz - wie in Mexiko entscheiden. Das hieße: Netzer und Overath wären wie Müller und Seeler 1970 in einer Mannschaft.

Zur Zeit aber sind beide von dieser Form ein weites Stück entfernt. Günter Netzer quälte sich fast sechs Wochen mit einer Oberschenkelzerrung herum, und der Wolfgang hat mit sich selbst zuviel zu tun. Er verschleißt sich, reibt sich an Kleinigkeiten auf und spielt nicht sein Spiel. Er spielt nicht Wolfgang Overath.

Typisch für diese Feststellung ist eine Szene, die ich beim Bundesligaspiel des 1. FC Köln gegen den Hamburger SV selbst miterlebte.

Overath ist im Ballbesitz und wird gefoult. Wie von der Tarantel gestochen, springt er hoch und beschwert sich beim Schiedsrichter. Der Debatte folgt Sekunden später eine wunderschöne Vorlage. Adressat: Wolfgang Overath. Was aber geschieht? Er verstolpert den Ball, meckert und dreht lustlos ab.

Von den Rängen ertönen Pfiffe. Laute, harte, schmerzhafte Pfiffe. Bei der nächsten Ballpassage kommt, was kommen muß: Wolfgang ist so gereizt, daß er sich zu einem Revanchefoul hinreißen läßt.

Dieses Hinreißen ist ein verdammt gefährlicher Zustand.

Läßt sich jemand gehen, verliert er automatisch die Kontrolle über sich selbst. Die Konzentration gilt nicht mehr dem Gegenspieler und dem Ball, sondern den dummen Nebensächlichkeiten wie Debatten mit den Unparteiischen und Revanchefouls.

Nun muß ich einräumen, daß die sogenannten Techniker in einer Fußballmannschaft viel mehr der Provokation ausgesetzt sind als die anderen. Das liegt in der Natur der Sache, an ihrer Art, das Spiel zu betreiben.

Ich spreche aus Erfahrung. Obwohl ich früher Mittel- oder Halbstürmer war, würde ich heute ein Mittelfeldspieler in der Abteilung Netzer, Overath, Haller sein. Doch auch meine damalige Position war nicht leicht. Ein ständiger Begleiter auf dem Platz war mir sicher.

Als Mittelfeldspieler schätze ich mich ein. So urteilen auch jene, die mich beim Training mit den Spielern beobachten. Am Ball klappt´s bei mir wirklich noch.

Apropos Ball: Ich kann einfach nichts Rundes liegen sehen. Ob es sich um einen Lederball, um ein Tischtennisbällchen oder um eine Billardkugel handelt - ich muß da zugreifen. Ich war und bin eine Spielratte.

Mit 16 Lenzen zum Beispiel verbuchte ich meinen ersten Erfolg als Tischtennisspieler. Ich war Sachsenmeister. Noch heute zehre ich von meinem damaligen Training. Tischtennis ist nämlich die beliebteste Freizeitbeschäftigung der Nationalmannschaft geworden.

Da geht´s hoch her, wenn Netzer gegen Müller, Maier oder Wimmer oder Paul Breitner gegen Bernd Hölzenbein spielt.

Der letztgenannte ist dabei unschlagbar. Kein Wunder, wenn man für Eintracht Frankfurt um Tischtennispunkte gekämpft hat...

Mit 30 habe ich dann noch die Grundschule des Billards erlernt. Dieses Klicken und Klacken der Kugeln fasziniert mich. Sie können ruhig schmunzeln: Ich wäre ganz gern ein Billardprofi geworden. Doch der dicke Ball, der Lederball bestimmte mein Leben...

So ein Ball wirkt ja Wunder. Er ist in unserem Kreis das Allheilmittel gegen Meinungsverschiedenheiten. Man schlägt beim Training mit dem Ball zwei Fliegen mit einer Klappe. Es fördert die taktische Schulung und die konditionellen Anforderungen. Allein das Springen des Balles mobilisiert den Spieler, erweckt Lust und Freude.

Nein, auf der Aschenbahn erhält kein Fußballspieler die richtige Kondition. Und solange ich Bundestrainer bin, kann ich mich nicht erinnern, auch nur einmal mit meinen Spielern geisttötende Runden gelaufen zu sein.


Einer macht die "Musike"

Nachweislich sind die Kicker sensible Menschen. Vor allen Dingen jene, die in einer Mannschaft eine führende Rolle spielen. Besonders empfindsam sind Mittelfeldspieler.

Sensibilität oder Empfindsamkeit ist meines Erachtens keine Untugend. Auch wenn man immer glaubt, im harten Profisport würden sich nur die "harten" Typen durchsetzen.

Auf diese Weise sind die Sensiblen wiederum stark. In meinen Augen sehe ich die Mittelfeldspieler als Künstler an. Nicht umsonst werden sie sehr oft mit einem Dirigentenstock in der Hand karikiert. Sie bestimmen die "Musike", sie diktieren den Rhythmus des Spiels, und die anderen müssen nach ihrer Pfeife tanzen. Das mag zwar ein wenig schroff klingen - doch es entspricht der Realität.

In einer Mannschaft müssen überragende Spieler den Ton angeben. Aber: Elf Netzer oder elf Beckenbauer, elfmal Pelé oder elfmal Johan Cruyff - das ergibt noch längst keine schlagkräftige Mannschaft. Ebenso sind elf Menuhins oder elf David Oistrachs noch lange nicht das beste Streichorchester der Welt.

Um es ganz kurz zu sagen: Die Mischung muß stimmen im Orchester, sprich: in der Mannschaft. Ich benötige Spieler, die etwas initiieren, ich brauche dann wieder Spieler, die das in die Tat umsetzen. Die instiktiv auffassen und und ausführen, was andere vorgedacht haben.

Günter Netzer war 1972 in der Europameisterschaft-Mannschaft der große Denker, der Initiator. Um ihn herum war alles genau abgestimmt. Die Mischung paßte, von Torhüter Sepp Maier bis zum Linksaußen Erwin Kremers.

Damals habe ich dann zu den Jungs gesagt: "Wir müssen uns mit dieser Elf bis zur Weltmeisterschaft 1974 über die Runden schmuggeln. Dann haben wir eine echte, große Chance."

Dann kam das große Pech

Aus der Schmuggelei wurde nichts. Nur beim 5:1 gegen die Schweiz in Düsseldorf spielte der Europameister noch einmal zusammen. Anschließend schlich sich der Verletzungsteufel ein, und es begann das Bäumchen-Bäumchen-wechsle-dich-Spiel.

Da war Sepp Maier angeschlagen, dann verletzte sich Breitner, plötzlich fiel Overath aus. Müller konnte nicht auflaufen, dann war wieder Günter Netzer von einer Zerrung geplagt, kurzum: Ich wurde zur Improvisation gezwungen. Damals sagte ich zu meiner Frau: Am liebsten möchte ich schon gar nicht mehr ans Telefon gehen." Das Telefon ist des Bundestrainers Schrecken und Freude - in dieser Zeit ob der vielen Hiobsbotschaften allerdings der Schrecken.

Und der ganz harte Schlag kam dann auch durch den heißen Draht. Eines Morgens hieß es: Günter Netzer geht zu Real Madrid.". Mir verschlug es fast die Sprache.

Madrid: ein anderes Leben, eine andere Art, Fußball zu spielen, anderes Klima - mir war nicht wohl. Doch gegen die ureigenste Entscheidung von Günter Netzer konnte ich als Chef der Nationalmannschaft nichts ausrichten. Oder doch?

Ich setzte mich sofort mit Hermann Neuberger, dem Vize-Präsidenten des Deutschen Fußball-Bundes, in Verbindung. Ich pochte bei einer Freigabe auf eine Zusatzklausel im Vertrag: Abstellung für alle Länderspiele und die Fußball-Weltmeisterschaft.

Ein zäher Kampf begann. Neuberger und ich flogen sogar nach Madrid, um mit Real an Ort und Stelle zu verhandeln. Der Kampf endete erfolgreich. Netzers Vertrag beinhaltet die Klausel und war außerdem so stark, daß Real ein Punktspiel verlegen mußte, damit Netzer für Deutschland in Rom gegen Italien mitmachen konnte.

Dieses Spiel in Rom - einige sprachen vom großen Bluff auf beiden Seiten, das ist absoluter Blödsinn -, dieses Spiel war für mich ein klarer Beweis, wie schnell Netzer sich in den Kreis der Elf einfinden kann.

Drei Tage vorher hatte es Wolfgang Overath in Barcelona gegen Spanien versucht. Der Versuch mißlang. Wir hatten drei Mannschaftsteile - die Abwehr, das Mittelfeld, den Angriff. Wir besaßen aber auch drei "Alleinunterhalter". Der Übergang von der Abwehr ins Mittelfeld zum Angriff erfolgte stockend. Er war zähflüssig. Es kam keinerlei Bindung zustande.

Man könnte nun erwidern, daß die gesamte Truppe nicht in Schwung war. Richtig. Nur - Wolfgang Overath war der verantwortliche Mann, er sollte für Dampf sorgen. Das war seine Aufgabe. Er galt in diesem Länderspiel als "Treiber".

Sie stutzen bei dem Wort Treiber und denken an einen Ausspruch aus dem Sprachschatz der Jäger? Die Fußballer haben oft ihre eigene Sprache. "Treiben" heißt nichts anderes als das Spiel flott machen. Die Überbrückung zwischen Abwehr und Mittelfeld durch schnelles Abspielen des Balles. Dieses perfekt praktiziert - da wird die gegnerische Abwehr sehr schnell aufgerieben und mürbe gemacht.

Der Wolfgang ist nun leider nicht der Mann, der eine Abwehr so zermürben kann. Und es gibt einen ganz natürlichen Grund dafür: Er spielt das Spiel aus der zweiten Reihe, das ist seine Stärke. Er spielt dann einen nach vorn und drängenden Spieler.

Und was geschieht, wenn er nun mit Netzer zusammen in einer Mannschaft stehen würde?

Spielen wir es mal theoretisch durch: Einer der beiden müßte den defensiven Part eines Mittelfeldspielers übernehmen. Ohne den geht´s ja nicht.

Für diesen Part käme nur Wolfgang Overath in Betracht. Dann wiederum würden seine ureigensten Stärken arg leiden. Dazu kommt noch das Psychologische. Wer jahrelang in einer Mannschaft den Dirigentenstab geschwungen hat, sitzt später nur sehr ungern im Orchester.

Nach meiner Meinung besteht der eklatante Unterschied zwischen beiden Spielern darin: Beide schlagen sehr gute, lange Pässe. Beide beherrschen perfekt den Ball. Beide sind im Dribbling ungeheuer stark. Aber nur einer ist ein echter "Treiber", nur einer macht das Spiel flott: Günter Netzer.

Wolfgang Overath zögert und zaudert im Moment zu sehr. Er muß wieder zu sich selbst finden, dann ist er ein sehr wertvoller Mann. Er ist ein alter Hase. Kein Gramm Fett wird er zuviel auf den Rippen haben. Und - er ist ein engagierter Spieler.

So paradox es manchmal klingen mag: Es gibt im Fußball schnelle Spieler, die langsam sind; und es gibt langsame Spieler, die schnell sind.

Ich war auch kein schneller Spieler. Meine langen Beine verhinderten einen blitzschnellen Antritt. Da blieb mir keine andere Wahl, als meine Technik anzuwenden und den Ball sofort weiterzuleiten, wenn ich ihn am Fuß hatte.

Es gibt Spieler, die sind erst richtig gut, wenn ihre Kräfte nachlassen. Wenn´s in den Oberschenkeln weh tut oder das Atmen schwerfällt, wenn die Kondition nachläßt. Dann spielen sie rationell und vernünftig.

So betrüblich das Improvisieren ist, es hatte für uns auch eine gute Seite. Die Mannschaft lieferte den Beweis, daß jeder irgendwie zu ersetzen ist.

Dies zu wissen macht stolz und froh. Und wenn ich ganz genau rechne, dann könnte der DFB einige Übernachtungskosten für WM-Spieler sparen...

Lesen Sie in der 3. Folge:

- Die Mannschaft der 100 Möglichkeiten
- Der Computer hat nie eine Chance

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