1974: 16-20; Helmut Schön: Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, WM 74     
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Bundestrainer Helmut Schön: Meine Elf und ich -- 3. Teil -- "Hörzu" Nr. 21 / 1974, S. 32-36: --erfasst von TJ--

Aufgezeichnet von Roman Köster ("Hörzu")


Das Naschen am fremden Kuchen dauerte knapp zehn Minuten. Dann hatte ich mir gehörig die Finger verbrannt und gab auf...

Anders ausgedrückt: Ich reichte Hanns Schulz, der damals beim RIAS in Berlin als Sportreporter arbeitete, das Mikrofon zurück und sagte: "Bitte, machen Sie weiter. Meine Phantasie reicht nicht aus. Da muß man ja ein richtiger Künstler sein, um klarzukommen."

Das Ereignis liegt 24 Jahre zurück. Trotzdem ist es noch frisch in meiner Erinnerung. 1950 wollte ich mich als Sportreporter im Rundfunk versuchen. Meine einfache Rechnung sah so aus: Du kennst doch was vom Fußball und kannst auch reden. Warum sollte man dann nicht ein Fußballspiel übertragen können?

Ich wurde schnell eines Besseren belehrt. Erstens: Ich verfiel in den Fehler des Fachsimpelns. Zweitens: Ich kam nicht in Schwung. Das lag nicht an mangelndem Temperament, sondern an der Spielart der beiden Mannschaften. Der Spandauer SV und Eintracht Braunschweig boten mitten im März ausgesprochenen Sommerfußball.

Nach zehn Minuten war ich geschafft und hatte die Nase voll.

Trotzdem würde mich ein Ausflug in den Bereich des Mediums Fernsehen reizen.

Ich möchte gerne einmal wissen, ob ich auch so ein Dauerredner als Kommentator wäre. Dieses ständige Reden bei den Fußball-Übertragungen scheint manchen Herren von der ARD und dem ZDF viel Spaß zu machen. Mir nicht.

Nun gab es ja in jüngster Zeit genug Gesprächsstoff bei den sogenannten Testspielen unserer Nationalmannschaft. Jetzt, wo die Spiele abgeschlossen sind, kann ich es sagen: Viele "Experten" haben mir bei der Auswahl der Gegner abgeraten. Sie haben mit dem Kopf geschüttelt. Klar. Schließlich haben wir uns nicht die leichtesten Mannschaften eingeladen, wenn ich an Brasilien, Schottland, Spanien, Argentinien, Jugoslawien oder Schweden denke. Doch ich war zu dieser Mischung aus Technik, Kampf, langsamen und schnellem Spiel gezwungen.

• Der Grund: Deutschland qualifizierte sich ohne Qualifikation für die Weltmeisterschaft.

So eine Qualifikation hat etwas Positives und Negatives. Das Gute bei der Sache: Man wird gezwungen, eine schlagkräftige Mannschaft zu haben. Das "Muß" sitzt im Nacken. Es verlangt höchste Konzentration.

Und die negative Seite? Dieser Wettbewerb beinhaltet ein sehr hohes Risiko. Kleine Patzer haben große Auswirkungen.

Ich erinnere an Tirana. 1967, Europameisterschaft, Deutschland muß gegen Albanien gewinnen, um Gruppenerster zu werden. Was passiert? Wir spielen 0:0.

Das war die bitterste Stunde meiner Trainerlaufbahn. Ich selbst habe wohl den entscheidenden Fehler gemacht. Mit Held, Küppers, Peter Meyer und Hannes Löhr hatte ich den falschen Angriff nominiert. 18 Monate nach unserem 2:4 gegen England im Finale der WM 1966 diese Enttäuschung - es war kaum zu fassen.

Die Taktik im Fußball


Dieses Ballspiel ist eben unberechenbar. Auch ein Computer hat keine Chance. Ich finde es richtig, wenn der Schauspieler Bernhard Minetti erklärt: "Fußball ist vorbildhaft faszinierend, weil die Bühne mit taktischer Intelligenz erobert werden muß."

Was aber ist nun Taktik im Fußball?

Die Zeitung "DIE WELT" rief mich neulich an und wollte Antwort auf die Fragen: Ist Taktik die Eingebung überdurchschnittlicher Spieler, im entscheidenden Augenblick das Richtige zu tun? Ist Taktik der geistige Drill eines Trainers, der seine Schäfchen vom Spielfeldrand her am Band hat?

Meine Antwort heißt: Die Wahrheit liegt genau in der Mitte. Der moderne Fußball braucht Spieler, die innerhalb einer bestimmten Sekunde richtig entscheiden. Diese Entscheidung muß der Spielsituation entsprechen und der Mannschaft dienen. Sepp Herberger hat genau wie ich das "goldene Mittelmaß" zwischen taktischer Ordnung und spielerischer Freizügigkeit gesucht.

Im modernen Spiel verteidigt eine Mannschaft mit 6, 7 oder 8 Spielern und kontert im nächsten Augenblick mit 4, 5 oder 6 Mann.

Die konditionelle Hauptlast ruht bei den heute üblichen 4-3-3- oder 4-4-2-Systemen auf den Schultern der Mittelfeldspieler. Die Sturmspitzen werden messerscharf gedeckt. Viel Spielwitz, taktische Fähigkeiten und Entschlusskraft setzen die ständigen Positionswechsel in die Breite und Tiefe des Spielfeldes voraus.

Der Abwehrspieler geht überraschend immer wieder mit in den Angriff. Er muß technisch, taktisch und konditionell vor allen Dingen hervorstechend sein.

Um es einmal ganz einfach auszudrücken: Das moderne Spiel ist schneller, härter und explosiver geworden. Es fordert den athletisch geschulten, technisch versierten, intelligenten und taktisch variablen Allroundspieler oder den überdurchschnittlichen Spezialisten. Der Fußball nach der Schablone eines Systems hat keine Chance mehr.

Noch in den 60er Jahren war das anders. Im sogenannten WM-System lag die Verbinderaufgabe bei den beiden Halbstürmern. Sie hießen deshalb auch Verbinder. Zusammen mit den Außenläufern bildeten sie ein magisches Viereck. Die Sturmspitzen gingen sehr selten zur Verteidigung zurück, für die Abwehrspieler galt umgekehrt das gleiche.


Wunderwaffe aus Brasilien

Die jetzigen Spielarten haben sich aus dem brasilianischen 4-2-4-System entwickelt. Der Angriff mit vier Stürmern galt 1958 und 1962 bei den Weltmeisterschaften als Sensation und Wunderwaffe der Brasilianer.

Daraus entwickelte sich der Stil, den ich mit unserer Elf heute praktiziere: drei Angreifer, drei Mittelfeldspieler und vier in der Abwehrreihe. Vergleichen wir einmal die Stilarten bei den letzten beiden Weltmeisterschaften, so ist festzustellen:

• 1966 in Englang überwog das kämpferische Moment. Es wurde ungeheuer wuchtig, kraftvoll gespielt.

• 1970 in Mexiko zwang das Klima zum Umdenken. In der Höhenlage war allein durch Kraftfußball nichts zu holen. Hier mußte man den Ball laufen lassen. Taktisch kluges Handeln sicherte uns den Erfolg und den dritten Rang.

Und was erwartet uns in wenigen Wochen? Ich bin sicher: Kraft und Technik wie noch nie.

Ich glaube, daß unsere Mannschaft beides beherrscht. Mein Optimismus basiert auf der Vielseitigkeit der Spieler. Es ist die Mannschaft der Alleskönner:

So kann zum Beispiel der Frankfurter Jürgen Grabowski Rechtsaußen und im Mittelfeld spielen. Jupp Heynckes von Borussia Mönchengladbach ist auf drei Positionen zu verwenden; Rechtsaußen, Linksaußen und Mittelstürmer. Paul Breitner hat bereits bewiesen, daß man ihn als linken Außenverteidiger und im Mittelfeld einsetzen kann. Der Kölner Cullmann als Libero, Vorstopper, im Mittelfeld oder auf Rechtsaußen - das ist auch möglich.

Der Schalker Helmut Kremers kann als Libero oder Außenverteidiger fungieren. Uli Hoeneß ist auf dem rechten Flügel oder im Mittelfeld einsetzbar.

Sein Vereinskamerad Georg Schwarzenbeck - gegen den ich persönlich nie gern spielen würde, er ist ein sehr unbequemer Gegenspieler - kann Vorstopper oder Außenverteidiger spielen. Herbert Wimmer von Borussia Mönchengladbach kann auch rechts stürmen oder im Mittelfeld wirken.

Na ja, und jetzt werden Sie nach Franz Beckenbauer fragen. Sehr richtig. Den können Sie überall hinstellen, vielleicht sogar ins Tor. Es würde mich in der Tat nicht wundern, wenn er da seinem Vereinskameraden Sepp Maier auch noch Konkurrenz machen würde. Dank seines Talents.

Spaß beiseite: Beckenbauer kann alles spielen. Sogar Linksaußen.

Solche eine Vielseitigkeit von einer Mannschaft gibt es sehr, sehr selten. Sie ermöglicht einem Trainer ein sehr variables Spielsystem. Je nach Gefechtslage die richtigen Leute am richtigen Ort.

Ich weiß, daß mich mancher Trainerkollege um diese "Elf der 100 Möglichkeiten" beneidet.

Normalerweise benötigen wir keine 22 WM-Spieler für das Turnier. Wir kämen auch mit 15 oder 16 Leuten aus, was das System und die Taktik anbelangt. Doch es stünde dem Gastgeber schlecht zu Gesicht, wenn er als einziger Vertreter nicht die geforderten 22 Spieler melden würde.

Was die Vielseitigkeit betrifft, so sind wir in diesem Punkt sogar den Ballkünstlern aus Brasilien überlegen. Dazu kommt noch: Wir verfügen über mehr Kraft und Ausdauer. Mir ist schon klar, warum der Titelverteidiger für drei Monate von der Bildfläche verschwindet und ins Trainingslager geht. Es hapert an der Kondition. Nur: Mir will nicht einleuchten, daß ich innerhalb von drei Monaten eine Mannschaft physisch in Top-Form bringen kann. Da reicht die Zeit einfach nicht.

Ich bin ein Gegner von langen Trainingslagern. Da kann es schnell zum "Lagerkoller" kommen. Plötzlich ist der große Knall da. Ich schwöre auf einen kleinen Ort im hohen Norden Deutschlands. Da kann sich entscheiden, ob die Bundesrepublik am 7. Juli Weltmeister ist oder nicht.

In der 4. Folge:

- Das Wunder Franz Beckenbauer
- Die Zukunft der Nationalelf

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