1970: 15-20, Das Millionenspiel     
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Jagd ihn - er ist ein Mensch! -- "HÖR ZU" Nr. 42 / 1970, S. 5:

Das Millionenspiel, Ausgeburt eines kranken Gehirns?

"Unerhört! Wie kann man so etwas Perverses senden?
"Das kann sich nur ein krankes Gehirn ausdenken. Ich bin entsetzt!"
Noch sind diese Leserbriefe nicht geschrieben. Vielleicht werden sie geschrieben - wenn das 'Millionenspiel' über die Bildschirme gelaufen ist. Denn was dieses Spiel zeigt, ist ungeheuerlich, ist angeblich die TV-Unterhaltung von morgen, eine Menschenjagd auf Leben und Tod, ausgestrahlt in Millionen Wohnungen, in denen Väter, Mütter und Kinder sitzen, um mitzuerleben, wie der Kandidat, von den Kugeln der Verfolger getroffen, verreckt, live, in Farbe - oder wie er überlebt und eine Million kassiert.

Der Autor dieser grauenhaften Zukunfts-Television ist Wolfgang Menge. Er glaubt, daß bis zur Verwirklichung solcher Vorstellungen nur wenige Jahre vergehen werden. Wahnwitz - möchte man sagen. Denn beteuern wir nicht unentwegt, daß jedes Menschenleben heilig ist? Diskutiert diese Gesellschaft nicht leidenschaftlich die Frage, ob es erlaubt ist, einen Embryo zu töten - weil er ein Mensch ist? Und dann sollte dieselbe Gesellschaft in ein paar Jahren biertrinkend und skrupellos dem unmenschlichen Mordspiel zuschauen, Wetten abschließen und nach einem letzten Blick auf die Leiche des Kandidaten seelenruhig schlafen gehen?
Unmöglich! Oder?

Wer sind wir denn? Feiern wir nicht die Humanität, die Beweise der Menschlichkeit und der Barmherzigkeit? Preisen wir aber nicht zugleich die 'brutalen' Filme, die Männer, die 'kein Erbarmen' kennen?

Das deutsche Fernsehen, das sich so besorgt zeigt um die Entwicklung der Jugend, füttert eben diese Jugend mit Brutalität und Gewalt. Jeden Tag werden auf dem Bildschirm Menschen von Schlägern, Kugeln oder Messern tödlich getroffen - nicht mehr zum Entsetzen der Zuschauer, sondern zu ihrer Unterhaltung.

Und Zimmermanns Jagd? Mag sie auch in bescheidenem Maße einem guten Zweck dienen, weit mehr noch dient sie der Unterhaltung, dem Nervenkitzel von Millionen, der hohen Sehbeteiligung.

Am 1. Oktober waren wir Zeugen eines niederschmetternden Versuchs ('Abraham'): Im Münchner Max-Planck-Institut wurden 100 Bürger aufgefordert, ihnen unbekannte Menschen 'zur Strafe' mit Elektroschocks zu foltern. Trotz gellender Schmerzensschreie der Gequälten führten nicht weniger als 85 Testpersonen die Befehle der Bewußtseinsforscher ohne Skrupel aus.

Wer wollte da noch ausschließen, daß eines bösen Tages 85 Prozent ohne Skrupel das Millionenspiel verfolgen?

Empörung ist angebracht. Aber wogegen? Nicht jedenfalls gegen das Spiel von Wolfgang Menge. Das ist Schock und Warnung zugleich. Wohl aber gegen die Doppelbödigkeit unserer Moral, gegen die Kräfte der Abstumpfung, gegen die Barbarei in uns.

Wenn das Mordspiel Wirklichkeit würde, hätte unsere Gesellschaft ihr einziges bedeutendes Spiel verloren, jenes nämlich, in dem es um den Sieg der Menschlichkeit geht.

-Va, HÖR ZU-


Reaktionen auf 'Jagd ihn - er ist ein Mensch!' -- "HÖR ZU" Nr. 44 / 1970, S. 58:

Der ausgezeichnet abgefaßte Artikel (zum 'Millionenspiel') hat meine Tochter und mich begeistert. Gibt es doch noch Verfasser, die fähig sind, ein gutes, klares Deutsch niederzuschreiben und gleichzeitig logische Kritik darzulegen. Sollten sie nicht den heutigen Lesern mehr solche Wahrheiten vor Augen halten "über das Mängelwesen Mensch"?
-Regina A. aus Hamburg-

Man sollte sich nicht gegen das "Spiel" - ist dieser Ausdruck allein nicht schon purer Hohn? - des Herrn W. Menge empören, es wäre Schock und Warnung zugleich? Man soll und muß! Empörung hat sich nicht gegen ungreifbar im Raum stehende Begriffe von Moral und Unmoral zu richten, sondern gegen alle diese Menschen, die uns diese Brutalität verkaufen wollen, gegen den Hersteller, gegen den Akteur und gegen den Vertreiber, und dabei schließe ich die Verantwortlichen beim Fernsehen nicht aus... .
-Ingeborg H. aus Mönchengladbach-

Endlich eine normale und auch eine mutige Stimme! Ein Mensch wagt endlich das auszusprechen, was bestimmt 80 Prozent der Bundesbürger bejahen. Man fragt sich doch längst: "Warum gibt es keine Stimme dagegen?" Und jeder antwortet: "Hat doch heute gar keinen Zweck." Wirklich nicht? frage ich und meine: "Wir sagen zu wenig!" Sollen in einer Demokratie nicht alle zu Wort kommen können? Hier bei Ihnen gab es nun endlich einmal eine Stimme... Im Übrigen finde ich dieses Treiben gegen jede Kultur und für eine Unkultur im Ganzen so verheerend und eindeutig, daß man es eine Diktatur nennen möchte! Und muß! Wie lange noch?
-Käthe K. aus W.-


Schreck in der Abendstunde -- "HÖR ZU" Nr. 44 / 1970, S. 55:

"Sollte der Fuchs bereits bei Beginn erschossen werden", teilt der Ansager mit, "muß das Spiel abgebrochen werden."

Es muß nicht, es läuft bis zum bitteren Ende, das "Millionenspiel" von Wolfgang Menge (ARD Köln); Lotz, der Fuchs, welcher der Fernsehunterhaltung wegen durchs Feuer geht, wird freilich mit keinem 'Schweinderl' abgespeist - er kassiert eine Million; das Fernsehen hat inzwischen schließlich Fortschritte gemacht. 'Spiel ohne Grenzen', das war einmal, nur die Unschuld der Veranstalter ist geblieben. Dieter Thomas Heck wünscht weiterhin viel Spaß und Glück auf allen Wegen, zur Bastelstunde kann umgeschaltet werden auf Kanal 7. Fernsehen 1980 - oder wann auch immer: Das Team Toelle/Menge hat die schrecklichen Aussichten faszinierend heraufbeschworen.

-Herbert Lichtenfeld, HÖR ZU-


Ich wär' ein guter Killer -- "HÖR ZU" Nr. 45 / 1970, S. 8:

Lebt Lotz? Was sagt die Polizei dazu? Wann läuft die nächste Folge? Fragen über Fragen ließ das Millionenspiel offen. Sogar Freiwillige meldeten sich

Dieter Hallervorden, von Beruf Schauspieler, und Tom Toelle, von Beruf Regisseur, müssen sich von anonymen Telefonanrufern sagen lassen, daß sie mit ihrem vorzeitigen Ableben zu rechnen haben. Hallervorden spielte den Gangster Köhler im 'Millionenspiel'; Toelle inszenierte das Stück. Die Mutter von Jörg Pleva, die in Stuttgart eine Ballettschule leitet, wird mit der Frage bestürmt, wie sie das zulassen konnte. Jörg Pleva spielte den gehetzten Lotz im 'Millionenspiel'.

Spiel oder nicht Spiel - das war für Millionen von Fernsehzuschauern KEINE Frage; sie hatten die Ansage entweder nicht gehört oder nicht verstanden und auch im späteren Spielverlauf den satirisch-fiktiven Charakter des Stückes nicht erkannt. Noch während der Sendung meldeten sich beim WDR 14 Männer zwischen 17 und 50 Jahren als Todeskandidaten, etliche als Jäger. "Ich bin erst 28, ich kann warten", sagte einer, als man ihn auf die achtziger Jahre vertröstete. Ein Herr V. aus Düsseldorf: "Ich bin fit, habe das Sportabzeichen, wann kann ich antreten?" Ein Herr S. aus München: "Ich bin Beamter. Für eine Million mach ich's!" "Ich wäre ein guter Killer!" "Ich bin hoch unfallversichert!" "Der Nervenkitzel reizt mich!" So steht es außerdem in vielen Briefen, die den WDR und die Leserbrief-Redaktion von HÖR ZU erreichen. Ein Herr Lotz (!) aus Düsseldorf: "Meine Mutter hätte fast einen Herzschlag bekommen."

An Herz und Nieren ging es offensichtlich vielen Zuschauern, dieses Millionenspiel; es machte böses Blut, hinterließ Ratlosigkeit, Empörung und nur wenig Zustimmung. Nichts freilich wäre dem WDR-Fernsehspielchef Dr. Rohrbach auch unangenehmer gewesen als Zustimmung. "Wenn auch vielfach falsch verstanden: Reagiert wurde richtig. Wir wollten erreichen, daß die Menschen sich nicht guten Gewissens schlafen legen, daß sie sagen: "Das ging zu weit!" Abgesehen von jenen wenigen Dutzenden, die gar mitmachen wollten als Jäger oder Gejagte, ging es den weitaus meisten Fernsehzuschauern tatsächlich 'zu weit'. Ganz gleich, ob sie nun den satirischen Charakter verstanden oder nicht: Sie äußerten Betroffenheit, daß so etwas einmal Wirklichkeit werden könnte; die Aufforderung, das Spiel sofort abzubrechen, "weil es unmenschlich ist", die Sorge, ob Lotz 'wenigstens' von seinen Verletzungen genesen ist und die Million genießen kann. Das gute Gewissen funktioniert.

Wer vermag die Frage unseres Lesers Andreas Asmus aus Oldenburg abzutun, der sich besorgt erkundigt, ob nicht vielleicht "die Menschen, die diese Satire heute verabscheuen, morgen begeisterte Zuschauer solcher Shows sind"? Wer könnte die Bedenken von Edgar Wolf aus München einfach für gegenstandslos erklären, daß möglicherweise erst durch solche Fernsehspiele "die niedrigsten Instinkte des Menschen hervorgelockt werden"? Fragen über Fragen.

Das Fernsehen will die Auseinandersetzung mit dem Zuschauer - nun ist sie da. Und sie geht weiter: Der Leiter der WDR-Sendung "Bitte umblättern", Kay-Dietrich Wulffen, hat eine Seite in seinem Magazin, Ausgabe 1. Dezember 1970, bereits reserviert: Da kommen einige der Todeskandidaten zu Wort.

-Herbert Lichtenfeld, HÖR ZU-


HÖR ZU-Leser zum 'Millionenspiel' -- "HÖR ZU" Nr. 45 / 1970, S. 8:

Wo bleibt unsere Justiz? In welchem Rechtsstaat leben wir?
-Anneliese P. aus Köln-

Falls das 'Millionenspiel' den Anstoß zu einem grundsätzlichen Wandel im Fernsehprogramm gegeben haben sollte, hätte Autor Wolfgang Menge eine segensreiche Tat vollbracht.
-Dr. R. M. aus Bad N.-

Um den Sinn des Stückes zu erfassen, wäre ein Kommentar erforderlich gewesen.
-Ingeborg S. aus Berlin-

Anmerkung der HÖR ZU-Redaktion: Der Kommentar wurde gegeben - in der Ansage.

Wir brauchen nur an die Bande eines Charles Manson, an die Vietnam-Massaker usw. zu denken, um zu wissen, wie weit wir tatsächlich schon sind. Bedurfte es dieses Autors und seiner monströsen Phantasie, um die gradlinige Weiterentwicklung aufzuzeigen?
-Alfred B. aus Kleve-

Selbst die Müllabfuhr würde sich weigern, diesen stinkenden Blödsinn zu transportieren.
-Walter K. aus München-

Mehr Humor bitte, weniger Brutalität.
-Hannelore M. aus Hagen-

Eine weitere Folge sehe ich mir nicht an.
-Friedrich B. aus Rastatt-

Das Geld für einen solchen Aufwand hätte man lieber einem Altenheim geben sollen.
-Sigrid und Bollo A. aus Berlin-

Alle ins Irrenhaus!
-Karl G. aus B.-

Diese Sendung hat uns gut gefallen. Ich würde sofort bei einem solchen Spiel mitmachen. Man könnte ja ein Abkommen mit der Köhler-Bande machen. Sie kriegen die Hälfte der Gage, dafür schießen sie daneben.
-H. K. aus Brusum (NL)-

Mögen alle Götter dieser Welt verhindern, daß dieses Millionenspiel je Wirklichkeit wird!
-Paul G. aus Frankfurt-

Erst durch Stücke dieser Art geht die Ehrfurcht vor dem Menschenleben verloren.
-Irmgart M. aus Bonn-

Ausgerechnet die Anstalt, die mit scheinheiligem Erfolgsneid Zimmermann und sein 'Aktenzeichen' der Weckung niederer Emotionen bezichtigt, präsentiert so ein Machwerk.
-Folker R. aus N.-



Deutsche Zeitungen zum 'Millionenspiel' -- "HÖR ZU" Nr. 46 / 1970, S. 58:

"Alles, was das 'Millionenspiel' zeigt, gibt es auch heute schon: das Brutalitätsbedürfnis der Zuschauer, den Zynismus der Fernsehroutiniers, die Geldgier der Kandidaten, die für klingende Münze beinahe alles tun. Ich bin sicher: Würden wir mit dem 'Millionenspiel' heute Ernst machen, brauchen wir keine zwei Tage nach einem Kandidaten zu suchen."
-Wolfgang Menge in einem Interview mit der Münchner 'Abendzeitung'-

Wer da glaubte, es werde ein Vorgriff auf die Zukunft... der mußte irren... Fast jedes Element des 'Millionenspiels' hatte irgendwo seinen realen Bezugspunkt. Die Utopie galt nur soweit, als die realen Ansatzpunkte verwandelt, verzerrt, ins Absurde überführt wurden. Der Fundus, aus dem das Spiel schöpfte, war von heute: Vom Goldenen Schuß bis zum ungelösten Aktenzeichen, vom Ratequiz bis zur flachköpfigen Show-Matrize war alles da, was uns die Television so Tag um Tag anliefert.
-Valentin Polcuch (Die Welt)-

Den auf die Spitze getriebenen Nervenkitzel um Geld und Tod denunziert zu haben wäre der Mühe wert gewesen. Doch was Satire hätte sein können, bleibt hier bloße Übertreibung... Es sei betont, daß sich die Produzenten dieser Sendung um die Chance einer Selbstironie zugunsten der nur spektaklären Show gebracht haben.
-Sigrid Schmitt-Blum (Frankfurter Rundschau)-

Dümmlichkeit für die Dummen, dabei bleibt's. Und die Satire wird zum Vorwand, gerade das zu zeigen, was man zu verdammen vorgibt. Von all den Zukunftsbedrohungen, wie sie für das Jahr 1984 im berühmten Buch stehen, findet sich keine Spur. Niemand hat einen Strich durch die Rechnung der Wohlstandsgesellschaft gemacht, das gesellschaftliche Bewußtsein unserer Mitbürger unterscheidet sich um keinen Deut von dem heutigen.
-E. J. (Frankfurter Allgemeine Zeitung)-

Und so ist das 'Millionenspiel' keine Parodie, keine Satire, kein "Stück" nur. Es ist ein Exempel für die Fortsetzung des kritischen Journalismus mit den Mitteln der Utopie, die realistisch ist. Es ist Dokumentation...
-Alexander Rost (Die Zeit)-

Die Sendung vom 'Millionenspiel' hat Furore gemacht - und viel böses Blut. Sie hat Verwirrung gestiftet, noch und noch... Eins ist dabei herausgekommen; wer's noch nicht wußte, weiß es jetzt: Mit Menschen kann man (beinahe) alles machen.
-Abendpost/Nachtausgabe-

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